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Theologie auf dem Campus

 
 
 
Diskussion in einem Seminar

Forschung & Lehre

Emeritus

Professor Dr. Wolfgang Stegemann †

Nachruf auf Prof. Dr. Wolfgang Stegemann (1945–2023)

 Die Augustana-Hochschule trauert um Prof. Dr. Wolfgang Stegemann, der am 12. Juli 2023 nach schwerer Krankheit verstorben ist. Die neutestamentliche Forschung verliert mit ihm einen ausgesprochen innovativen, engagierten, national wie international angesehenen Theolo­gen.

Wolfgang Stegemann wurde am 8. November 1945 in Barkhausen (Porta Westfalica) geboren. In den Jahren 1968 bis 1973 studierte er evangelische Theologie in Heidelberg. Von 1973 bis 1977 war er bei Egon Brandenburger als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Mainz tätig. Dort lernte er Luise Schottroff und Dorothee Sölle kennen, denen er sich in vielfältiger Weise theologisch eng verbunden fühlte. In der damaligen heftigen Kontroverse über einen Lehrauftrag für Dorothee Sölle stand er klar auf deren Seite. Bis 1979 wirkte Wolfgang Stegemann sodann als Pfarrer der badischen Landeskirche in der Gemeinde Nußloch bei Heidelberg. Es folgten weitere Assistenturen an der Theologischen Fa­kultät der Universität Heidelberg, zunächst in den Jahren 1979–1980 im Fach „Systematische Theologie“ bei Lothar Steiger und dann in den Jahren 1980–1984 im Fach „Neues Testament“ bei Gerd Theißen. Noch während seiner Zeit als Assistent in Mainz wurde Wolfgang Stege­mann mit einer systematisch-theologischen Dissertation zum Thema „Ontologie und Geschichte. Entwick­lung und Problematik der existential-ontologischen Begründung der Einheit von Theologie und Exegese bei Rudolf Bultmann“ in Heidelberg promoviert. 1983 habilitierte er sich an der Uni­versität Heidelberg mit einer Arbeit über die historische Situation der im lukanischen Doppel­werk repräsentierten christlichen Gemeinschaft. Sie erschien 1991 unter dem Titel „Zwischen Synagoge und Obrigkeit“ in der Reihe „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“. 1984 erhielt Wolfgang Stegemann schließlich den Ruf auf den Lehrstuhl für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 innehatte. In den Jahren 1987 bis 1989 sowie in den Jahren 1998 bis 2000 leitete er die Hochschule als Rektor.

Bereits in seiner Dissertation, die 1978 unter dem Titel „Der Denkweg Rudolf Bultmanns“ pu­bliziert wurde, taucht am Rand ein Motiv auf, das Wolfgang Stegemanns wissenschaftliches Werk nachhaltig prägen sollte. In der hochkomplexen Studie gelangte Stegemann u.a. zu der Einsicht, dass Rudolf Bultmann die Frage nach dem Verständnis der menschlichen Existenz zwar mit Recht in das Zentrum der theologischen Auslegung des Neuen Testaments gerückt habe, dass er aber zugleich die mögliche Antwort auf die Frage nach dem Menschen unnötig „transzendental-existenzial“ eingeengt und so die materielle Gestalt der Geschichte aus dem Blick verloren habe. Die Eruierung der von Bultmann weithin übergangenen sozialen, ökono­mi­schen, politischen und dann auch kulturellen Wirklichkeit der Menschen der Bibel sollte fortan zum großen Forschungsprojekt Wolfgang Stegemanns werden. Der Schlüssel zur Bot­schaft der neu­testamentlichen Texte war für ihn nun nicht mehr die Frage nach dem mensch­lichen Selbstver­ständnis, sondern die Ermittlung jener konkreten historischen gesellschaft­li­chen Situation, in der die Texte des Neuen Testaments entstanden waren und die sich inhaltlich in ihnen wider­spiegelte. Zusammen mit Luise Schottroff und Gerd Theißen wurde Wolfgang Stegemann so zum namhaften Begründer einer neuen Form der Bibelauslegung, der sozial­geschichtlichen Exegese. Auch wenn sich der sozialgeschichtliche Diskurs der neutesta­ment­lichen Forschung bis ins 19. Jh. zurückverfolgen lässt und Anfang des 20. Jh.s diesbezüglich weitere wichtige Impulse gesetzt wurden, so war es doch nicht zuletzt Wolfgang Stegemann, der mit den anderen Genannten der sozialgeschichtlichen Exegese Ende der 1970er und dann in den 1980er Jahren national und international mit zum Durchbruch verhalf.

Noch im selben Jahr, in dem die Dissertation erschien, also 1978, veröffentlichte Wolfgang Stegemann die gemeinsam mit Luise Schottroff verfasste sozialgeschichtliche Untersuchung „Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen“. Das Buch fand in mehreren Auflagen über viele Jahre hinweg eine große, weit über die engen fachwissenschaftlichen Kreise hinausreichende Leserschaft und wurde bald ins Dänische, Spanische, Niederländische, Englische, Italienische und schließlich ins Japanische übersetzt. Weitere Profilierungen des sozialgeschichtlichen An­satzes legte Stegemann 1979 in den beiden zusammen mit Willy Schottroff herausgegebenen Aufsatzbänden „Der Gott der kleinen Leute“ vor, ferner in dem 1980 ebenfalls mit Willy Schottroff herausgegebenen Buch „Traditionen der Befreiung“ sowie in der Monographie „Das Evangelium der Armen“, die gleichfalls im Jahr 1980 erschien. Auch diese Bücher wurden in mehrere Sprachen übertragen. So liegt die letztgenannte Studie in englischer, italienischer, ja­panischer und indonesischer Übersetzung vor. Die vielen sozialhistorischen Recherchen und Studien Wolfgang Stegemanns mündeten schließlich in das gemeinsam mit seinem Zwillings­bruder Ekkehard Stegemann verfasste Standardwerk „Urchristliche Sozialgeschichte. Die An­fänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt“. Das 1995 erschie­nene Werk diskutiert unter intensiver Heranziehung vieler sozialwissenschaftlicher Einsichten und Modelle zentrale soziale Implikationen neutestamentlicher Texte.

In den 1990er Jahren engagierte sich Wolfgang Stegemann vermehrt in der „Context Group“. Die internationale Forschungsgruppe, der damals u.a. Bruce Malina, John Elliott, Scott Bartchy, Jerome Neyrey, Philip Esler und John Pilch angehörten, arbeitete mit Nachdruck daran, über die im engeren Sinn sozialgeschichtlichen Fragestellungen hinausgehende kulturanthropologi­sche Perspektiven und Einsichten in der neutestamentlichen Forschung zu verankern. Wolfgang Stegemann trug mit dazu bei, die kulturanthropologische respektive kulturwissenschaftliche Exegese in Deutschland zu etablieren. Dazu übersetzte er 1993 das diesbezüglich einschlägige Standardwerk „The New Testament World. Insights from Cultural Anthropology“ von Bruce Malina, dazu verfasste er ferner einen Forschungsüberblick zur kulturanthropologischen Exe­gese, der 1999 in der Zeitschrift „Verkündigung und Forschung“ erschien, dazu organisierte er des Weiteren ein Treffen der „Context Group“ mit sozialgeschichtlich arbeitenden Exegetinnen und Exegeten in der Akademie Tutzing, aus dem 2002 der zusammen mit Bruce Malina und Gerd Theißen herausgegebene Sammelband „Jesus in neuen Kontexten“ hervorging, und dazu gab er schließlich 2003 den Aufsatzband „Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Bezie­hung“ heraus, in dem er generell eine Öffnung der Theologie für die Perspektiven der Kultur­wissenschaften anstieß. Die reife Frucht der langjährigen sozialgeschichtlichen und kulturwis­senschaftlichen Forschungen Stegemanns ist sein 2010 publiziertes Buch „Jesus und seine Zeit“, in welchem er u.a. eine reflektierte Dekonstruktion der klassischen Jesusforschung vor­nahm, für eine Ablösung des Religionsmodells durch das Ethnizitätsmodell plädierte, die „kol­lektive Identität“ Jesu als Judäer herausarbeitete, die basileia theou als soziale Heterotopie be­schrieb und eine aktive Beteiligung der jüdischen Führungsschicht am Prozess und der Hin­richtung Jesu bestritt.

Mit dem letztgenannten Punkt ist ein weiterer Fokus der Forschungen von Wolfgang Stege­mann angesprochen. Bereits 1988 organisierte er anlässlich des 50. Jahrestages der sog. Reich­s­pogromnacht eine hoch­karätig besetzte Vortragsreihe an der Augustana-Hochschule, die 1990 unter dem Titel „Kirche und Nationalsozialismus“ publiziert wurde. Zentraler Gegenstand wa­ren die vielen schuldhaften Verstrickungen in die menschenverachtende Politik des NS-Staates gegenüber der jüdischen Bevölkerung seitens einzelner Persönlichkeiten in Theologie und Kir­che, aber auch seitens der Theologischen Fakultäten, der Diakonischen Einrichtungen und der Kirchen insgesamt. Zur damaligen Zeit war eine solche Vorlesungsreihe im kirchlichen Raum noch keineswegs selbstverständlich. Wolfgang Stegemann musste sie gegen manche Wider­stände durchsetzen. Im Jahr 1994 trat er dem Herausgeberkreis der 1986 von Rolf Rendtorff, Ekkehard Stegemann und Edna Brocke gegründeten Zeitschrift „Kirche und Israel“ bei. Die Zeitschrift widmet sich bis heute mit großem Engagement auf hohem akademischem Niveau dem christlich-jüdischen Dialog im Spannungsfeld von Theologie und Politik, Kultur und Literatur. 2006 erhob Wolfgang Stegemann vor dem Hintergrund eines entsprechenden Protes­tes des Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnbergs, Arno Hamburger, schwer­wiegende Einwände gegen einen ehrenden Gedenkgottesdienst für Hans Meiser, den ersten Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Unter Verweis auf dessen an­tisemitische Äußerungen in einem Aufsatz aus dem Jahr 1926 protestierte Stegemann gegen die kirchliche Gedenkpolitik und löste damit die sog. „Meiser-Debatte“ aus. Zusammen mit dem Alttestamentler und damaligen Synodalen Helmut Utzschneider stieß er dann zu Beginn der 2010er Jahre eine das Verhältnis von Juden und Christen klärende und die bleibende Er­wählung Israels betonende Ergänzung des Grundartikels der Kirchenverfassung der Evange­lisch-Lutherischen Kirche in Bayern mit an. Sie trat im Jahr 2012 in Kraft. Wolfgang Stege­mann arbeitete die entsprechende Textpassage mit aus. In den letzten Jahren setzte er sich zusammen mit seinem Zwillingsbruder intensiv mit dem Phänomen des „antiisraelischen Anti­semitismus“ auseinander. Einige dieser Beiträge der beiden Brüder erschienen 2021 in dem von Soham Al-Suadi und Kathy Ehrensperger mitherausgegebenen Sammelband „Vom Anti-Judaismus zum Anti-Israelismus. Der Wandel der Judenfeindschaft in theologisch-kirchlichen Kreisen“.

Befördert durch seine enge Zusammenarbeit mit Luise Schottroff setzte sich Wolfgang Stege­mann von Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere an nachdrücklich für die Integration feministischer Forschung in Theologie und Exegese ein. Er war so auch maßgeblich mit daran beteiligt, dass im Jahr 1997 gegen mancherlei Widerstände eine Dozentur für Theologische Frauenforschung / Feministische Theologie an der Augustana-Hochschule eingerichtet werden konnte.

Wolfgang Stegemann war ein bei den Studierenden hoch geschätzter und beliebter Lehrer. Mit seiner zugewandten und gewinnenden Art vermittelte er zahlreichen Studierenden Freude an der exegetischen und theologischen Arbeit. Mit ihm zog in vielerlei Hinsicht ein neuer, moder­nerer Ton in den exegetischen und theologischen Diskurs ein. Er betreute zahlreiche Disserta­tionen und beförderte darüber hinaus als Mentor etliche Habilitationen.

Wolfgang Stegemanns innovative Forschungen, seine breite Gelehrsamkeit und seine Streitbar­keit werden fehlen. Die Augustana-Hochschule blickt mit großer Dankbarkeit auf sein frucht­bares Wirken an der Hochschule, in der neutestamentlichen Wissenschaft und in der Kirche zurück. Sie wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Für die Augustana-Hochschule

Prof. Dr. Christian Strecker (Lehrstuhl für Neues Testament)

 
 
 
 


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