„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ Zum Engagement der Evangelischen Kirche
Mittwoch, den 7. Juli 2021. Die Ocean Viking hat 572 Menschen an Bord. Manche der Geretteten sind schon seit 7 Tagen auf dem Schiff. Davor haben Sie auf einem seeuntauglichen Boot um ihr Leben gebangt, davor sind sie in Libyen Opfer von Folter, Vergewaltigung und Menschenhandel gewesen. Die rationierten Versorgungspakete gehen aus und noch immer wartet die Crew auf die Erlaubnis zur Fahrt in einen Sicheren Hafen. Alle anderen Rettungsschiffe sind festgesetzt.
Neuendettelsau. Prof. Dr. Heike Walz eröffnet die Zoom Konferenz mit Auszügen aus einem Gedicht, das Teilnehmer:innen am Ökumenischen Kolleg anhand der Werke Hannah Arendts verfasst haben.
Wir haben nichts verbrochen, sind nicht hier, weil wir etwas tun, sondern weil wir sind.
Weil wir sind…
Was sind wir?
Sind wir noch wer?
Sind wir noch Mensch?
Wir.
Wir Flüchtlinge
Wer sind wir, Deutsche, Franzosen?
Wer schützt uns vor dem Bösen, der Not?
Wir wollen dazugehören um jeden Preis
Doch keiner weiß
sich für uns verantwortlich
Nike Franken und Jonas Dettmann, 2021
Wer ist Propst Joachim Lenz?
Herr Lenz ist Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Zur Zeit ist er als Propst in Jerusalem zuständig für die pastorale Arbeit der deutschsprachigen Kirchengemeinden in Israel und Palästina. Seine Tätigkeit als Vereinsmitglied bei United4Rescue - Gemeinsam Retten e. V. ist, wie für alle neun Vereinsmitglieder, eine ehrenamtliche. Er erzählt, dass wegen des Krieges und der Covid-19-Pandemie in den letzten eineinhalb Jahren meistens niemand aus Deutschland nach Jerusalem kommen konnte. So hatte er mehr Zeit, sich mit der Flucht über das Mittelmeer nach Europa zu beschäftigen.
Wie ist United4Rescue entstanden?
Im Frühjahr 2019 wurde die Operation „Sophia“ der Europäischen Union eingestellt, so dass die zivile Seenotrettung im Mittelmeer endgültig alleingelassen wurde. Für den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm war klar: „Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben.“ Er sieht, mit Verweis auf das höchste Gebot des Christentums, eine Verantwortung der Kirchen, aktiv zu werden anstatt zuzuschauen, wie Tag für Tag Menschen ertrinken. Lenz erinnert an dieser Stelle an die Initiative Rupert Neudecks 1979 „Ein Schiff für Vietnam“, die in Deutschland großes Lob erntete. Entscheidend im Prozess war der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dortmund im Juni 2019. Hier verabschiedeten Teilnehmer:innen einen Aufruf an den Rat der EKD, selbst ein Schiff ins Mittelmeer zu schicken. In der Predigt des Schlussgottesdienstes sagte Pastorin Sandra Bils: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt“, ein klarer und wichtiger Satz für die EKD mit wichtigen Konsequenzen. Die EKD-Kirchenkonferenz stimmte dem Aufruf zu und am 6. September beschloss der Rat der EKD, einen Verein zu gründen. Der Verein United4Rescue - Gemeinsam Retten e .V. wird heute aus 783 Bündnispartnerorganisationen gebildet. Wichtiges Gründungsmitglied von United4Rescue ist Bürgermeister Leoluca Orlando von Palermo. In der sizilianischen Hafenstadt sind Carola Rackete und ihr Besatzungsteam Ehrenbürger:innen und der Bürgermeister setzt sich dafür ein, dass Rettungsschiffe frei ein- und ausfahren können. Bezüglich seines Engagements sagt er: „Wir müssen eine klare Botschaft schicken. […] Das Leben ist heilig.“
Was ist das Ziel von United4Rescue?
Lenz erklärt, die Ziele, für die sich alle Bündnispartner einsetzen, seien: Seenotrettung ermöglichen, ihre Kriminalisierung verhindern, gerettete Menschen in einen Sicheren Hafen bringen und „Sichere Häfen“ in Deutschland ermöglichen. Im Augenblick heißt das konkret, dass Spenden den Erwerb und die Entsendung eines weiteren Rettungsschiffes ermöglichen, SeenotrettungsNGOs unterstützen und den Aufbau eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses fördern sollen.
Seenotrettung - Aufgabe der Kirche? Verantwortung der Kirche?
Der deutsch-österreichische Theologe Ulrich Körtner plädiert dafür, dass die Kirche beim Problem des Ertrinkens geflüchteter Menschen eine Vermittlungsrolle spielt anstatt zu fördern, dass Menschen sich in eine Gefahr begeben, um geflüchtete Menschen vor dem Ertrinken zu retten, bevor klar ist, was mit diesen Menschen geschieht, wenn sie in Europa ankommen. Der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini bezeichnet die Seenotrettung als kriminelle Schlepperei und der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz unterstellt ihr, einen Pull-Effekt zu erzeugen. Doch einen Zusammenhang zwischen der Seenotrettung und der Ausfahrt geflüchteter Menschen auf das Mittelmeer konnte nicht wissenschaftlich belegt werden. Es liegt nahe, dass etwa genauso viele Menschen auf das Mittelmeer fliehen, egal ob es eine Seenotrettung gibt oder nicht. Es gibt daher keinen Pull-Effekt, sondern einen Push-Effekt. Die Menschen finden die Situation in Libyen so schlimm, dass sie es bevorzugen, sich in akute Lebensgefahr auf See zu begeben als länger dort zu bleiben. Die Entscheidung für oder gegen die Unterstützung und Durchführung der zivilen Seenotrettung ist eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. In der Kirche besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Seenotrettung eine Aufgabe des Staates ist. Jedoch sind bisher 20.000 Menschen im Mittelmeer auf der Flucht nach Europa gestorben und die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union lässt dies zu, in den Worten von Bürgermeister Orlando ein Genozid. So lange, bis der Staat seine Verantwortung übernimmt, sieht sich die EKD in der Verantwortung, für die Rettung der Menschen zu sorgen, die sonst sterben würden.
Anschließend an den Vortrag von Herrn Lenz folgt eine Fragerunde. Die Teilnehmer:innen vom Ökumenischen Kolleg, dem Unterstützungskreis des Sicheren Hafens Neuendettelsau, Mission EineWelt u. a. bedanken sich für den informativen Vortrag, für den es sich zweifellos sehr gelohnt hat, noch einen Abend auf Zoom zu verbringen.
Ruari Morrison
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